Entfremdung

In ihrem Artikel „Nur für den Klick“ im Zeitmagazin (Heft Nr. 48 vom 26.11.2015) setzt sich die Journalistin Heike Faller kritisch mit der Sucht nach „Likes“ in Sozialen Netzwerken auseinander. Eines der bekanntesten Beispiele eines „Likes“ ist der sogenannte „Gefällt mir“-Button auf Facebook, welcher den Nutzern die Möglichkeit bietet, ihre Zustimmung oder Unterstützung für bestimmt Beiträge anderer Nutzer zum Ausdruck zu bringen.
Sie beschreibt in diesem Zusammenhang ein Phänomen, welches ich gern als Entfremdung bezeichnen möchte:
„Und plötzlich ist es so: Die besten Augenblicke im Leben werden ständig auf ihr Likepotenzial abgeklopft. Der erste Schnee oder dein erstes Zimmer oder sogar die ersten Schritte eines Kindes: Aus den privatesten Situationen, aus Momenten, in denen du ganz bei dir warst, werden plötzlich Momente, in denen dir theoretisch Hunderte über die Schulter schauen. Und selbst wenn du sie am Ende gar nicht öffentlich machst: Allein darüber nachgedacht zu haben, wie die erste Schlittenfahrt bei anderen ankommen könnte, hat dem Moment seinen Kern geraubt – seine Gegenwärtigkeit. Statt dich darin zu verlieren, hast du dich selbst von außen betrachtet.“
Ich habe mich sehr über diese schöne Beschreibung gefreut, da mir dieses Phänomen in einem anderen Zusammenhang immer wieder auffällt: Der Sucht alles zu Fotografieren. Einerseits gibt es da eine direkte Verbindung zu den „Likes“, da viele Fotos sicherlich gemacht werden, um diese dann Online zu stellen, mit andern zu teilen und dafür ein positives Feedback in Form eines „Likes“ zu bekommen. Aber auch wenn die Fotos nicht zu diesem Zweck gemacht werden, sorgt der Vorgang des Fotografierens dafür, dass der Augenblick seine Gegenwärtigkeit verliert. So schauen einem vielleicht nicht „Hunderte über die Schulter“, aber man selbst wird eher zum Beobachter als zum Teilnehmer. Ich möchte keinesfalls behaupten, dass Fotografieren an sich etwas Schlechtes sei, aber es besitzt auch die Gefahr zur Sucht zu werden, möglicherweise auch durch das Bedürfnis gespeist, etwas festzuhalten, was eigentlich nicht festzuhalten ist - der Moment eben.
Für mich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, inwieweit diese Art der Entfremdung vom gegenwärtigen Augenblick und damit auch von sich selbst Begleiterscheinung,
beziehungsweise sogar Ursache von psychischen Erkrankungen sein kann. Ich bin davon überzeugt, dass jede bewusste Wahrnehmung des Augenblicks heilsam sein kann und uns in jedem Falle lebendiger sein lässt.

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