Sinnsuche und Identitätsgefühl

Ich bin im Rahmen meiner psychotherapeutischen Tätigkeit oft mit Fragen nach der eigenen Identität und nach sinnerfüllten Lebenszielen konfrontiert. Als Berater und Psychotherapeut kann ich diese Fragen natürlich für niemanden beantworten. Ich bin aber davon überzeugt, dass diese Fragen weit über seelische Leidenszustände und Störungen hinausreichen und sie sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder stellt. Meiner Erfahrung nach hängen Fragen nach der eigenen Identität und dem Lebenssinn immer sehr stark mit den jeweiligen Lebensumständen zusammen, in denen man sich gerade befindet. Ich halte es daher für ausgesprochen wichtig, dass das eigene Identitätsgefühl und die dazugehörigen Ziele gut dazu passen. Dies ist nach meiner Erfahrung leider oft nicht der Fall. Ähnlich verhält es sich auch mit den meisten seelischen Leidenszuständen, die oft dann entstehen, wenn man versucht anders zu sein, als man ist, sich also mit einem Maßstab bemisst, der nicht gut zur eigenen Beurteilung geeignet ist.
Es existiert aber noch eine andere Dimension, die alle Menschen gleich betrifft, unabhängig von den jeweiligen Lebensumständen in denen man sich gerade befindet. Es ist die Suche nach einem festen Fixpunkt, nach Werten nach denen man das eigene Leben ausrichten kann. Ich bin davon überzeugt, dass diese Werte tief in jedem Menschen angelegt sind und es darum geht, diese immer wieder neu in sich zu entdecken. Die Suche nach solchen Werten durchdringt die Philosophiegeschichte sowie alle Religionen. Ich glaube, dass allen Menschen dieser Weg des Entdeckens zugänglich ist und dies unabhängig von Intellekt und momentaner Gefühlslage oder anders ausgedrückt bin ich davon überzeugt, dass in uns Menschen eine Art Sinn oder Intuition zum Erkennen eben dieser Werte existiert. Es ist ein Gefühl der Stimmigkeit, dass alles andere durchdringt, welches aber leider in unserem Alltag oft nicht wahrnehmbar ist. Es braucht Momente der Stille, die unter anderem durch Meditation, Yoga und und andere Achtsamkeitsübungen erreicht werden können. Ich finde es daher sehr wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass es ein Ziel dieser Übungen ist, die innere Stimme wieder wahrzunehmen und so ein Stück Orientierung wiederzuerlangen. Wenn diese Dimension fehlt besteht die Gefahr, dass diese Übungen als bloße Methoden zur Streßreduktion und Wellness verkümmern.
Um Menschen gut in Krisensituationen begleiten zu können und natürlich um selbst ein sinnerfülltes Leben leben zu können, muss ich mir als Psychotherapeut und Mensch die Fragen nach der eigenen Identität, meinen Lebenszielen und Werten auch immer wieder neu stellen und beantworten. Ich möchte daher an dieser Stelle beispielhaft einen solchen Wert anführen, der sich im Laufe meines Lebens immer wieder deutlich abgezeichnet hat. Ich nenne ihn: „Das Gute in der Welt vermehren“. Damit verbunden sind folgende Aussagen:

Gutes zu tun bedarf meist einer gewissen Anstrengung.
Gutes ist durch eine gewisse Einfachheit gekennzeichnet.
Gutes bleibt.
Gutes entsteht meist aus einem Akt der Liebe.
Es tut gut, Gutes zu tun und andere gut zu behandeln.
Es tut gut von anderen gut behandelt zu werden und wenn andere einem etwas Gutes tun.
Wenn es nicht möglich ist etwas Gutes zu tun, so sollte man zumindest niemandem schaden.

Es ist sicher nicht sinnvoll, diesen Wert kritiklos und unbeseelt anzunehmen, obwohl ich davon überzeugt bin, dass er eine gewisse Allgemeingültigkeit besitzt. Dies mag nun absolut paradox klingen. Eine unreflektierte Werteübernahme ohne das Gefühl der inneren Stimmigkeit kann aber sehr gefährlich werden. Es bleibt also niemandem erspart, zeitlebens ein Suchender zu sein.

 

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