Rache – Eine kritische Bestandsaufnahme

Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit dem Thema Rache. Bei meiner Recherche habe ich festgestellt, dass im Bereich der Psychologie nur sehr wenig zu diesem Thema geforscht wurde und wird. Prof. Dr. Jürgen Maes erklärte sich dies in seinem Forschungsbericht „Psychologische Überlegungen zu Rache“ (1994) einerseits dadurch, dass Rache entweder nicht als Gefühl angesehen wird oder dass man darin eher ein soziologisches denn ein psychologisches Problem erblickt hat. Es spräche aber auch viel dafür, dass forschungsmethologische Gründe verantwortlich zu machen seien, weil das Phänomen zu komplex und daher im Labor unter experimentellen Bedingungen nicht modellierbar sei. Fragebogenuntersuchungen andererseits haben nach Maes mit dem Problem der erschwerten Zugebbarkeit sozial eher unerwünschter Gefühle zu kämpfen.
Andererseits ist Rache in unserer Gesellschaft allgegenwärtig.

Nach einer 2008 durchgeführten Umfrage in der deutschen Bevölkerung, gaben 35% der Befragten, Rache als nachvollziehbares Motiv für einen Mord an, gefolgt von Eifersucht, Habgier und Neid. Nach Adolf Gallwitz, Professor für Psychologie und Soziologie an der Polizeifachschule in Villingen-Schwenningen, gibt es drei klassische Hauptmotive für Mord. Rache stehe dabei an dritter Stelle (Seiters, 2008). Einem Großteil der Filme in Kino und Fernehen dient Rache als Leitmotiv der Handlung, von den  sogenannten Rachewestern bis hin zu  Eifersuchtsdramen und Blockbustern wie Batman oder Rambo. Viele Werke der Weltliteratur beschäftigen sich mit dem Thema Rache. Es scheint also in uns Menschen eine große Ressonanz, womöglich sogar Lust auszulösen, passiv an den Racheaktionen anderer teilzunehmen. Rache als Motiv zeigt sich auch in allen kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschheitsgeschichte bis hin zu aktuellen politischen Krisenherden, etwa im Nahost-Konflikt oder im ehemalige Jugoslavien (Maes, 1994). Im März 2014 besuchte der deutsche Bundespräsidenten Joachim Gauck  gemeinsam mit dem griechischen Präsidenten das griechische Bergdorf Lyngiades mit der Bitte um Entschuldigung für deutsche Kriegsverbrechen. 1943 erschossen dort deutsche Gebirgsjäger 83 Menschen als „Sühnemaßnahme“ für einen Hinterhalt von Partisanen, bei dem ein Wehrmachtskommandant umkam. Die meisten Dorfbewohner waren alte Menschen, Frauen und Kinder. Eine Liste solcher und ähnlicher Verbrechen liese sich sicher fast endlos fortsetzen.

Rache ist in unserer Gesellschaft also allgegenwärtig, andererseits aber, wird kaum offen darüber gesprochen. Eine mögliche Erklärung, in jedem Falle aber ein Indiz für die Verdrängung der Rache aus unserer christlich geprägten Gesellschaft ist das Ideal der „Feindesliebe“ von Jesus Christus. So heißt es im Matthäus-Evangelium „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet.“ Das Ideal der „Feindesliebe“ lässt sich aber nicht nur im Christentum sondern auch im Buddhismus, Hinduismus, Judentum sowie in der Philosophie der Antike bis in die Neuzeit wiederfinden. Nicht ohne Grund erlangte zum Beispiel Gandhi durch seinen Gewaltverzicht internationale Berühmtheit.

Ein Beispiel für die Zerrissenheit unserer Gesellschaft mit dem Thema Rache sieht Prof. Dr. Tonio Walter von der Universität Regensburg exemplarisch in dem Fall von Jan Philipp Reemtsma. Reemtsma befasste sich nach seiner Entführung durch Thomas Drach, der ihn einen Monat lang in einen Keller sperrte und mit dem Tod bedrohte, intensiv mit der Frage, ob das Opfer einer Straftat ein Recht auf die Bestrafung des Täters habe. Reemtsma vertrat in seinem wissenschaftlichen Vortrag (Reemtsma, 1999), die Meinung, dass ein individueller Vergeltungswunsch des Opfers „in jeder Rechtspraxis frustriert und von jeder Straftheorie mit Näheverbot belegt werden“ müsse. Am Ende seines 27 Seiten langen Vortrages zeigte sich dann aber der Mensch Reemtsma mit den Sätzen: „Denn der Rachewunsch (des Opfers) ist kein niedriges Bedürfnis, es (gemeint: er) sollte (als im Individuum fortbestehender Wunsch) nicht verachtet noch geächtet werden. Und es tritt nichts an seine Stelle.“ Auf der einen Seite steht Reemtsma, der nach seiner geistigen Haltung wohl als Humanist und Menschenfreund gelten darf und auf der anderen Seite steht das Opfer Reemtsma, welches auch nach Jahren noch Rachewünsche empfindet (Walter, 2011).

Warum aber könnte eine Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig sein? Auf diese Frage möchte ich gern mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche (1880) antworten: „Einen Rachegedanken haben und ihn ausführen, heißt einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Mut ihn auszuführen, heißt […] eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen.“ Nietzsche beschreibt diesen Zustand auch als Ressentiment, eine Art „heimlichen Groll“, der sich entwickele, wenn Rache und Vergeltung, als natürliche Antwort des Menschen auf Gutes wie Böses ausbleiben. Weiter, so heißt es bei Nitzsche (1887), sei der Mensch des Ressentiment, weder aufrichtig, noch mit sich selbst ehrlich, er verstehe sich auf das vorläufige Sich-verkleinern und Sich-demütigen.

Michael Linden (2014) schlug 2003 ein neues Krankheitsbild vor, welches sich meiner Meinung nach sehr gut dazu eignet, die Entstehung und Symptomatik des eben beschriebenen „heimlichen Grolls“ zu beschreiben, die Posttraumatische Verbitterungsstörung. Die PTED könne, so Linden, nach außergewöhnlichen, jedoch lebensüblichen Belastungen entstehen, wenn diese als ungerecht, kränkend oder herabwürdigend erlebt werden. Folgende Symptome stehen dabei im Vordergrund: ein anhaltendes Gefühl von Verbitterung, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, einer vorwurfsvollen Haltung sich selbst und anderen gegenüber, aggressiven Phantasien bis hin zu Gedanken an Suizid, auch erweiterten Suizid und eine dysphorische Grundstimmung. Die weiteren Symptome ähneln denen einer depressiven Erkrankung.

Es geht also um die Erhaltung beziehungsweise die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit. Ich stelle mir den heimlichen Groll auch als eine Art „Pulverfass“ vor, bei dem der kleinste Auslöser genügen kann, um unangemessenen und vor allem unkontrollierbaren Schaden anzurichten.
Maes stellt im letzten Abschnitt seines oben erwähnten Forschungsberichtes fest, dass es allgemein einsichtig erscheine, dass es dem Rächer zunächst einmal gut ergehe und Rache zumindest kurzfristig gut tue. Maes stellte auch die Frage nach der Dauer und dem Bestand des Gefühls im Bezug auf die ursprünglich wirksamen Motive der Rache: dem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle, dem Wunsch nach Wiederherstellung des Selbstwertgefühles und dem Wunsch nach Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Diese Fragen lässt er aber leider unbeantwortet.

Fast 20 Jahre später stellen Mario Gollwitzer und Michael Wenzel die Hypothese auf, dass der Rache genau das gleiche psychologische Fundament  zugrunde liege, wie der strafrechtlich legitimierten Vergeltung. Opfer eines Verbrechens zu werden, so die beiden Autoren, bedrohe unser Selbstachtungs- und unser Sicherheitsbedürfnis. Vergeltung und Rache seien daher Versuche, mit dieser Bedrohung umzugehen. Die Ergebnisse neuerer sozialpsychologischer Forschung weisen darauf hin, dass eine Racheaktion dann befriedigend ist, wenn der Täter, die ihr innewohnenden Botschaften versteht: „So etwas kannst du mit mir nicht machen!“ und „Dein Verhalten darf nicht ungestraft bleiben!“ Nur so, heißt es weiter, wenn der Täter die Nachricht versteht, ist eine Racheaktion in der Lage, die Bedürfnisse nach Selbstachtung, Sicherheit und Kontrollierbarkeit zu befriedigen(Gollwitzer, 2013). Aus Beobachtungen von Zuschauern und Lesern von Rachegeschichten in Filmen und Romanen, lasse sich außerdem feststellen, dass Rache genau dann ein positives Gefühl hinterlasse, wenn der Täter verstanden habe, dass die Rache eine notwendige Reaktion auf sein Verhalten war. Zusammenfassend schreiben Gollwitzer und Wenzel, dass Rache trotz ihrer Tabuisierung in vielen „zivilisierten“ Gesellschaften dazu beitragen kann, dass wir Menschen unseren Glauben an uns selbst und an die Wirksamkeit unserer Handlungen behalten.

Es erscheint also plausibel, dass sich die bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Rache positiv auf die seelische Gesundheit des Einzelnen und unser gesellschaftliches Zusammenleben auswirken kann. Wie eine praktische Integration in den Alltag aussehen kann muss nun am Ende meines Beitrages leider offen bleiben. Ich hoffe aber auf weitere Forschungsergebnisse und darauf dass dieser Beitrag andere Menschen dazu anregt sich mit dem Thema Rache zu beschäftigen.

Quellenverzeichnis:

Gollwitzer, M. und Wenzel, M (2013). Gerechtigkeitsaspekte sozialer Sanktionssysteme. In: Gollwitzer/Lotz/Schlösser/Streicher (Hrsg.). Soziale Gerechtigkeit. Göttingen: Hogrefe.
Maes, J. (1994). Psychologische Überlegungen zu Rache. Berichte aus der Arbeitsgruppe "Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral" Nr. 76. Trier: Universität Trier, Fachbereich 1/Psychologie.
Nietzsche, F. (1880). Menschliches, Allzumenschliches, Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. In: Friedrich Nietzsche. Ein Beitrag auf wikipedia.org (2014).
Nietzsche, F. (1887). Genealogie der Moral, Erste Abhandlung:“Gut und Böse“,„Gut und Schlecht“.
In: Friedrich Nietzsche. Ein Beitrag auf wikipedia.org (2014)
Seiters, Sarah (2008). Der Mörder in uns. www.focus.de.
Reemtsma, Jan Philipp (1999). Das Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters - als Problem.
Walter, Tonio (2011). Jeseits der Rache. Die Zeit, Heft 51/2011
Walter, Tonio (2011). Vergeltung als Strafzweck. Zeitschrift für internationale Srafrechtsdogmatik, Heft 07/2011
Wikipedia (2014). Posttraumatische Verbitterungsstörung. Ein Beitrag auf www.wikipedia.org

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